Die Podcast-Folge 307 von “Wohlstand für Alle” zur Besprechung von Erich Fromms Haben oder Sein trägt den verstörenden Untertitel “Die Zerstörung von Erich Fromm” – eine programmatische Überschrift, die sowohl rhetorisch als auch analytisch symptomatisch für die Schwächen der Kritik ist. Dabei sei eingangs betont: Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt sind gewandte, kritische Stimmen im deutschsprachigen Raum. Sie haben zur Popularisierung marxistischer Ökonomiekritik beigetragen und verdienen Respekt für ihre konsistente Arbeit. Umso mehr ist es schade, dass ihre Besprechung von Fromms Werk weit hinter ihren eigenen Möglichkeiten zur Reflexion zurückbleibt. Nebenbei bemerkt: die Kommentare unter dem Video und die Anfragen bei uns zeigen, dass es offenbar eine große Anzahl von Fromm-Kenner*innen unter den Abonnent*innen dieses Podcasts gibt.

1. Missverständnis der Methode: Fromm ist kein marxistischer Strukturtheoretiker

Fromms zentrale Leistung liegt nicht in einer ökonomischen Theorie des Kapitalismus. Haben oder Sein ist keine Analyse der Produktionsverhältnisse, sondern ein Versuch, die subjektiven Voraussetzungen kapitalistischer Vergesellschaftung offenzulegen. Fromm schreibt:

“Die Haupttatsache ist, dass die moderne Industriegesellschaft dem Menschen keine Existenzweise des Seins erlaubt.” (Fromm, Haben oder Sein, in: Gesamtausgabe, Band II, dtv, München 1989)

Damit zielt er auf das psychische Innenleben, nicht auf makroökonomische Strukturzusammenhänge. Wer Fromm also dafür kritisiert, keine Kapitalanalyse im Sinne von Marx zu liefern, verfehlt das Anliegen des Buches. Fromm versteht sich als Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und Humanist, nicht als Ökonom. Seine Bezugnahme auf Marx ist selektiv und psychologisch gemeint, etwa wenn er in Haben oder Sein schreibt:

“Die Hauptquelle der Entfremdung […] ist nicht der Mangel an Besitz, sondern die Veränderung der inneren Einstellung.” (ebd.)

Fromms Anliegen ist es, den “Marketing-Charakter” als dominanten Typus der kapitalistischen Moderne zu analysieren – einen Menschen, der sich selbst als Ware denkt und darstellt. Diese Kritik ist kein Nebenschauplatz, sondern trifft das Herzstück der Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse.

2. Die Reduktion auf Konsumkritik: eine triviale Verzerrung

Der Vorwurf, Fromm betreibe nur banale Konsumkritik (“Kartoffelchips, Balzac und Bücherlesen”), wird in der Podcast-Folge breit ausgerollt. Das verkennt jedoch den symbolischen Gehalt der Konsumkritik bei Fromm: Sie ist Ausdruck einer viel grundsätzlicheren Kritik am menschlichen Selbstverhältnis im Kapitalismus. Es geht ihm nicht um Öko-Moralismus, sondern um die Frage:

“Was bedeutet es, Mensch zu sein, wenn ich mich nur durch das definiere, was ich habe – und nicht durch das, was ich bin?” (ebd.)

Die Kritik am “Haben-Modus” ist Teil einer existenzialistischen Ethik: Besitzdenken erzeugt Angst, Abgrenzung, Gewalt. Der Mensch im Modus des Seins hingegen lebt in Bezogenheit, Liebe, produktivem Tun. Dabei verweist Fromm explizit auf Karl Marx, insbesondere auf dessen Unterscheidung zwischen entfremdeter Lohnarbeit und produktiver, selbsttätiger Arbeit als Ausdruck menschlicher Wesenskräfte. Das ist keine esoterische Spiritualität, sondern ein explizit politisch-ethisches Programm, das an die humanistische Dimension der marxistischen Theorie anschließt.

3. Der blinde Fleck: Subjektkritik als Voraussetzung von Systemkritik

Was bei Nymoen und Schmitt vollends fehlt, ist die Anerkennung, dass Kapitalismuskritik ohne Subjektkritik blind bleibt. Warum wehren sich Menschen gegen ihre Befreiung? Warum unterstützen sie autoritäre Systeme, die ihnen schaden? Warum reproduzieren selbst Unterdrückte die Logik des Habens?

Fromms Antwort: Weil sie in ihren Charakterstrukturen deformiert wurden. In Die Furcht vor der Freiheit (1941) beschreibt er, wie Menschen aus Angst vor Autonomie autoritäre Strukturen bejahen. Diese Analyse ist für jede tiefere Gesellschaftskritik unverzichtbar. Wer den Menschen nur als homo oeconomicus fasst, versteht nicht, warum soziale Bewegungen oft an sich selbst scheitern.

4. Die Illusion der politischen Wirksamkeit von Theorie ohne Psychologie

Fromms Vorschlag einer “Bewusstseinsveränderung” mag naiv wirken – aber ist es wirklich naiver als die Hoffnung, mit struktureller Analyse allein Massen zu mobilisieren? Die Podcast-Kritiker unterschätzen die politische Bedeutung von emotionaler Reife, Empathiefähigkeit und Ich-Stärke. Fromm wollte kein Wohlgefühl erzeugen, sondern politische Subjektivität schaffen. Seine Vision einer ethisch fundierten Gesellschaft setzt voraus, dass Menschen nicht nur strukturell befreit, sondern auch innerlich verwandelt werden.

Doch gerade deshalb braucht es überhaupt eine Idee des “richtigen Lebens” – und die findet sich bei Fromm deutlicher als bei vielen seiner Zeitgenossen.

5. Sozialpsychologie als blinder Fleck der Linken

Der Kern der Podcast-Kritik erinnert an das alte Missverständnis der Frankfurter Schule gegenüber Fromm: Er sei zu wenig radikal, zu wenig systemkritisch, zu sehr Humanist. Dabei wäre gerade heute eine Erweiterung linker Kapitalismuskritik durch sozialpsychologische Perspektiven dringend nötig. Wer autoritäre Tendenzen, Verschwörungsglauben oder kollektive Verdummung erklären will, kommt an Fromms Konzepten von Nekrophilie, Sadomasochismus, Narzissmus und Destruktivität nicht vorbei.

Resümee: Eine Kritik, die die Kritik verfehlt

Nymoen und Schmitt gehen mit Fromm hart ins Gericht – und verfehlen dabei den systemrelevanten Gehalt seiner Sozialphilosophie. Ihre Empörung über Fromms mangelnde Klassenkampfrhetorik verstellt ihnen den Blick auf die eigentliche Sprengkraft seiner Theorie: Sie liegt nicht im Aufruf zur Enteignung, sondern in der Vision eines neuen Menschen, der aus der inneren Freiheit heraus solidarisch lebt.

Wer Fromms Werk nur als bürgerlich-humanistische Vertröstung liest, verkennt seinen Beitrag zu einer umfassenden Kapitalismuskritik. Er liefert, was vielen ökonomischen Analysen fehlt: eine Theorie des Menschen, der diese Verhältnisse nicht nur erleidet, sondern in sich trägt und reproduziert.

Man könnte mit dem bedeutenden Marxismuskenner Leszek Kolakowski noch ergänzen:

Fromm teilte mit „der [Frankfurter] Schule die allgemeine Überzeugung, dass die Marxschen Analysen der Verdinglichung und Entfremdung weiterhin gültig sind und die grundlegenden Probleme der modernen Zivilisation insgesamt erfassen. … Das Marxsche Denken ist eine Auflehnung gegen die Bedingungen, unter denen die Menschen ihre Menschlichkeit einbüßten und sich in waren verwandelten, aber es ist zugleich ein optimistisches Bekenntnis des Glaubens, dass sie fähig seien, ihre Menschlichkeit wiederzugewinnen…“ (Die Hauptströmungen des Marxismus, Band 3, München 1979, S. 413 ff.)

Marx‘ bedeutende Gesellschaftstheorie erschöpft sich nicht mit seinen ökonomischen Analysen. Ja, gerade „Fromm trug beträchtlich dazu bei, das Bild von Marx als einem Humanisten zu popularisieren…“ (ebd., S. 420)


Siehe auch: – Fromm, Erich: Haben oder Sein. 1976. – Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit. 1941. – Fromm, Erich: Wege aus einer kranken Gesellschaft. 1955. – Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. 1964. – Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. 1944.


Wir würden uns sehr über einen aktiven Austausch mit uns freuen. Eine Einladung in den Podcast „Fromm today“ geht raus!

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