Isgard Ohls:

Der Arzt Albert Schweitzer

Weltweit vernetzte Tropenmedizin zwischen Forschen, Heilen und Ethik.

(Rezension von Ernst Luther)

 

Uneingeschränkt – so sei vorangeschickt – stimme ich den Worten des Herausgebers der Bonner Beiträge, Walter Bruchhausen, zu, die er im Geleitwort zu diesem Buch formulierte:

 

„Der materialreichen und gründlichen Studie von Isgard Ohls, die als Theologin, Musikerin und Ärztin Schweitzer in Vielem sehr nahe ist, kommt das große Verdienst zu, auch anhand von zahlreichen bisher unveröffentlichten Archivalien und in umfassender Kenntnis der bereits sehr umfangreichen Literatur zu Schweitzer mit einem solchen einseitigen Bild des bloß humanitären, weniger wissenschaftlichen Buschdoktors aufzuräumen. (…) Diesem wertvollen Beitrag zu unserem Schweitzer-Bild und zur Schweitzer-Forschung ist zu wünschen, dass er in diesem Sinne nicht nur den engen Kreis der Anhängerschaft oder biographisch Interessierten erreicht und überzeugt, sondern darüber hinaus eine weitere Leserschaft, die sich der Frage nach dem Zusammenhang von humanitärem Engagement und wissenschaftlich basierter Lebensform – oder einfacher: der Menschlichkeit der Medizin – stellt.“ (S.12 f.)
Die Autorin gestaltet das Buch nach einer Einleitung zu Forschungsstand, Material- und Quellenbasis in drei konzentrisch angelegten Kreisen:

  • Das Kapitel „A. Der Mensch – Das Wirken in Europa (1875 – 1913)“ beginnt mit einer biographischen Skizze seines Lebens, einschließlich des Nachruhms. Es folgen in vertiefenden Kreisen dieser Skizze sein Weg zur Medizin, die Jahre des Medizinstudiums, der Konflikt mit der Pariser Missionsgesellschaft und der Beginn der Arbeit in den Tropen.
  • Das Kapitel „B. Der Arzt – Das Wirken in Afrika (1913 – 1965)“ enthält zwei längere Abschnitte, von denen der erste der Behandlung verschiedenen Tropenkrankheiten gewidmet ist und der zweite die wissenschaftliche Forschung im tropenmedizinischen Alltag untersucht.
  • Das Kapitel „C. Der Denker – Das Wirken Schweitzers in der und für die Welt (1913 – 2013)“ greift die medizinethischen Fragen des Umgangs mit den Patienten noch einmal auf und stellt sie in den Kontext der Debatte zwischen Biomedizin und traditioneller Medizin.

Von den etwa 5000 Titeln über das Leben und Werk Schweitzers, die in Frankfurt am Main bibliographisch erfasst sind, musste die Autorin natürlich eine Auswahl treffen; diese ist sachlich bezogen, konzentriert sich voll auf Schweitzer als Arzt und umfasst deutsch- wie englisch- und französischsprachige Werke. Es mag für in wissenschaftlicher Literatur ungeübte Leser beschwerlich sein, wenn auf der Seite mehr Text in Fußnoten (es sind insgesamt 1653) steht als im gewohnten Lesefluss. Hier wäre zu empfehlen, zuerst einmal die Aufmerksamkeit nur auf den normalen Text zu richten; die Neugier wird schon dafür sorgen, dass nach den Quellen und Ergänzungen gesucht wird. – Den biographischen Weg Schweitzers setze ich als bekannt voraus.

Die Autorin wendet sich der Diagnostik und Therapie verschiedener Tropenkrankheiten im medizinischen Alltag zu. Bekannte Bilder, die Leser aus den Büchern über das Spital kennen, sind die Geschwüre auf der Haut, die Elephantiasis-Tumore und Patienten mit der Schlafkrankheit. Letztere wurde für Schweitzer zu einer besonderen Herausforderung. Die Autorin folgt Schweitzer von der Beschreibung der Ätiologie, der Epidemiologie bis zu den Versuchen der Therapie. Weniger Probleme hatte Schweitzer mit der Malaria, da er im Labor relativ schnell die Differenzialdiagnose stellen konnte.
Weltbekannt wurde Schweitzer durch die Hilfe für die Lepra-Kranken, die von ihrer Sippe getrennt, oft elend zugrunde gingen. Mit seinem „Dorf des Lichts“ schuf er einen Ort der Behandlung und Geborgenheit. Zu Schweitzers Zeit befanden sich zuerst etwa 240 Patienten in Bambushütten; sie konnten dann in die Baracken mit Wellblechdächern umziehen, was natürlich in der Regenzeit unschätzbar hilfreich war. Auch die Konflikte mit seinen Mitarbeiterinnen, die neue Wege versuchten, werden beschrieben. Man musste sein Vertrauen gewinnen, dann ließ er auch neue Medikamente zu.
Heute findet man dort wohl schon die vierte Generation und nur eine Handvoll Kranke, dafür einen freundlichen Korbflechter, der fast ohne Finger damit sein Einkommen aufbessert.
Ein besonderes Problem sind Vergiftungen, weil sie nicht nur von Schlangen oder aus Nahrung (wie z.B. aus wildem Honig) stammen, sondern auch als Waffe eingesetzt werden. Deshalb nahmen im Spital Afrikaner grundsätzlich keine zubereiteten Speisen ein, sondern empfingen nur Lebensmittelrationen.

Da psychische Krankheiten keine speziellen Tropenkrankheiten sind, ist ihnen auch kein Abschnitt gewidmet. Die Bezugnahme erfolgt vielfach in Anmerkungen oder Notizen so nebenbei. Jedoch war der Ausschluss der Kranken aus der Sippe mindestens ebenso dramatisch und brutal wie bei der Lepra. Schweitzer berichtet von seiner ersten Begegnung mit einer am Baum gefesselten kranken Frau. (Die Autorin verzichtet hier – im Gegensatz zur sonstigen Gewohnheit – auf die Primärquelle und zitiert einen Hinweis von H. Mai.) Es ist richtig, dass Schweitzer weder eine spezielle psychiatrische Ausbildung hatte, aber das Schicksal dieser Kranken ließ ihn nicht in Ruhe. Dank einer großzügigen Spende aus London konnte er für die Geisteskranken 1930 das erste Gebäude mit acht Einzelzellen, Tagesraum und Freigelände schaffen. (Marie Woytt-Secretan) Erika Taap schildert in ihrem „Tagebuch“ den Weg zur Gartenarbeit.
Wenn man heute den Pfad von der Historischen Zone zum Lepradorf geht, kommt man an vom Urwald überwucherten Gebäuderesten aus Schweitzers Zeit vorbei. Mit der Schließung des Spitals wurde 1981 eine neue Form der Betreuung geschaffen. (Dr. Martina Heitz-Schoenlaub)

Walter Munz berichtete (1991), dass die Psychiatrie noch 32 Betten hatte. Im Speisesaal hängt ein Kalender aus der Arbeitstherapie (1993). Heute gibt es keine psychiatrische Abteilung mehr. Im ehemaligen Haus „Kopp“ ist eine Art Sozialstation, in der man einem psychiatrisch kranken Mann begegnen kann. Für eine wünschenswerte Neuauflage des Buches wäre ein spezieller Abschnitt zur Psychiatrie als Beispiel echter Patienten-Achtung ein Gewinn.
Der für das Buch vielleicht entscheidende konzentrische Kreis ist der Abschnitt „Die wissenschaftliche Forschung im tropenmedizinischen Alltag von Lambarene“. Fast unglaublich, was die Autorin auf dem Dachboden eines Hamburger Instituts und in Syracus aufgestöbert hat.

Es geht hier um Schweitzers Verbindung zum Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, um seine Einstellung zum Tierexperiment und deren Realisierung, um die internationalen Kontakte zu weiteren tropenmedizinischen Instituten und Forschern, sowie klinisch-therapeutische Versuche im tropenärztlichen Alltag von Lambarene. Der Untertitel des Buches „Weltweit vernetzte Tropenmedizin zwischen Forschen, Heilen und Ethik“ hat in diesem Abschnitt eine besondere Bedeutung. Es geht um die ethische Begründung der Tierexperimente, um die internationalen Kontakte zu tropenmedizinischen Instituten und Forschern und um den klinisch-therapeutischen wie wissenschaftlichen Versuch im tropenärztlichen Alltag von Lambarene. In einem neuen konzentrischen Kreis wird auf die Kontakte zwischen Lambarene und Hamburg zurückgegriffen, um die Versuche zu beschreiben, die der Heilung der Lepra dienten.
Das Konfliktpotential ist enorm, deshalb ist auch vieles bisher nicht publiziert worden. Es ist ein Drahtseilakt, den Schweitzer unternimmt, um Leben zu retten, sich dafür nicht nur Wissen zu besorgen, sondern auch sich für Handlungen zu entscheiden, die einen Konflikt mit seiner Ethik schaffen. Ob Schweitzers ethische Beurteilung von Tierversuchen in der letzten Konsequenz „individualethisch“ und „Subjekt-orientiert“ ist (Ferrari) oder ob es mehr um eine „Güterabwägung zwischen menschlichen und tierischen Interessen“ geht, wie die Autorin meint, kann hier nicht diskutiert werden. Immer allerdings, gibt es eine „rote Linie“: „Keiner mache sich die Last seiner Verantwortung leicht.“ (Anm. 947, S. 234)
Die Thematik Forschung wird bis in die Gegenwart fortgeführt, da – unabhängig von der Spitalstiftung – ein großes internationales Forschungsteam unter der Leitung von Prof. Kremsner aus Tübingen im Spital arbeitet.
Das letzte Kapitel „C. Der Denker – Das Wirken Schweitzers in der und für die Welt (1913 – 2013)“ greift alle Probleme noch einmal vom Beginn der ärztlichen Tätigkeit auf: Das Arzt-Patient-Verhältnis, das Spannungsfeld zwischen europäischer Biomedizin und afrikanischer traditioneller Medizin und bewertet zum Schluss „Die ethisch-moralische Basis von Schweitzers tropenärztlichem Handeln.“ Ihr Ziel ist es, in diesem Kapitel eine Antwort zu geben auf die Frage: „Was blieb und bleibt von der ‚ethischen Improvisation Lambarene‘ bestehen?“

Die Einleitung beginnt erst einmal mit den zahlreichen Ehrungen Schweitzers, darunter schließlich auch die Ehrung mit der „Ehrendoktorwürde der Ostberliner Humboldt-Universität.“ Über die Reaktion Schweitzers erfahren Leser nur, wenn sie den Anmerkungen folgen und in den Quellen nachlesen. Dafür erklärt die Autorin apodiktisch: „Die sich daran anschließende Korrespondenz mit Walter Ulbricht schadete Schweitzer in der Folgezeit mehr als dass sie nutzte.“
Finden wir schon auf S. 53 die tendenziöse Darstellung, dass die Staatsführung der DDR Schweitzer für eigene Zwecke einzuspannen versuchte. Hier, auf S. 302 wird es geradezu absurd. Die Autorin verschweigt, dass der Streit zwischen Heuss und Schweitzer im August 1961 zur Zeit der Bundestagswahl entstand und Heuss beklagte, „dass kaum ein Augenblick ungeschickter gewählt werden konnte, mit führenden Leuten der DDR in irgendeine unmittelbare loyale (sic! E.L.) Auseinandersetzung einzutreten. 1961 existierte die DDR 12 Jahre und immer noch galt die Hallsteindoktrin vom alleinigen Anspruch der BRD, Deutschland zu repräsentieren und jede Person, wie jeden Staat materiell, juristisch und moralisch zu bestrafen, soweit Kontakt mit der DDR aufgenommen wird. Schweitzer aber ging es um die Gefahr eines Atomwaffenkonflikts. 50 Jahre danach müsste man doch wissen, dass die Bonner Regierung in dem Wahn lebte, in dem 13 km langen Atombunker nahe Bonn einen Atomkrieg zu überstehen, während das Volk wie in Hiroshima verbrennt. Natürlich war und ist es das Recht aller Staaten und Bürger, Schweitzer zu ehren. Er gehört eben nicht nur einem Land. Aber zurück zum Nutzen und Schaden.

Es gab viele Kräfte in der SED-Diktatur, die versuchten, den Einfluss Schweitzers zu begrenzen. Sie hatten keine Chance. Die Vernunft setzte sich bis in den Kreisen des ZK der SED durch. Hier sei nur exemplarisch erwähnt die Gründung des Albert-Schweitzer-Komitees beim Präsidium des DRK der DDR, das damit verbundene Erscheinen der Rundbriefe des ASK, das erste Albert-Schweitzer-Denkmal der Welt 1968, das Internationale Albert-Schweitzer-Symposium in Burgscheidungen 1980, die bis 1989 244 Kollektive, die den Namen Albert-Schweitzer verliehen bekommen haben, die über 2 Millionen Mark der DDR Sachspenden, die Lambarene aus der DDR erhielt. Man lese die Chronik „50 Jahre nationales und internationales Engagement für das praktische Werk Albert Schweitzers“ und wird schnell davon überzeugt, wie hoch der Nutzen der Initiative von 1961 war.
Zurück zu der Frage, was von Schweitzers Anliegen bleibt. Das ist einmal sehr positiv zu beantworten, weil die Achtung vor Schweitzers Wirken auch auf seine Nachfolger übertragen wurde und in weiten Kreisen Gabuns und der Welt bis heute anhält. Zum anderen darf nicht übersehen werden, dass auch in Gabun die Marktwirtschaft mächtig ist und ihren Einfluss ausübt. Über die Ehrungen zum 100-jährigen Bestehen des Spitals und der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben hat Roland Wolf ausführlich berichtet, wie über die finanziellen Sorgen und Personalprobleme.

Mit ihrem Buch hat die Autorin der Leserschaft zusammen mit Albert Schweitzer eine große Schar von ärztlichen und pflegerischen Helfern aus aller Welt bekannt gemacht; dafür ist ihr zu danken. Als Schlusssatz steht ein Vermächtnis und eine Aufforderung von Walter Munz: „Es gibt nicht nur ein Lambarene, jeder kann sein Lambarene haben.“ – Den Kapiteln schließt sich ein umfangreicher wissenschaftlicher Anhang an.
Das Buch ist es wert, in allen medizinethischen sowie pflegerischen Aus- und Weiterbildungsveranstaltungen diskutiert zu werden.


Isgard Ohls: Der Arzt Albert Schweitzer. Weltweit vernetzte Tropenmedizin zwischen Forschen, Heilen und Ethik. Erschienen in der Reihe: Medizin und Kulturwissenschaft, Bonner Beiträge zur Geschichte, Anthropologie und Ethik der Medizin, Band 10, hg. von Heinz Schott und Walter Bruchhausen. V& R unipress, Bonn University Press 2015, 466 S., ISBN 978-3-8471-0491-9, 64,99 Euro.


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