„Miteinander ganz geboren werden… Pädagogik der Biophilie: Grundlagen und Perspektiven“
Vom 26. bis zum 28. April 2024 lud die Internationale Erich-Fromm-Gesellschaft zu ihrer Jahrestagung ins am Tor zum Harz gelegene Bildungshaus Zeppelin & Steinberg in Goslar, um mit zahlreichen fachkundigen Gästen über die Bedeutung frommscher Ideen für eine Erziehung zur Biophilie – der Liebe zum Lebendigen – zu diskutieren. Den Einstieg am Freitag bestritt, nach einer Begrüßung durch die Promovendin, Lehrerin und Hauptorganisatorin Anke Raidt (Duisburg-Essen) sowie einem musikalischen Beitrag von Nils Bischof (Erfurt), ein Dreigestirn: Der sich vielseitig um Fromms geistiges Erbe verdient gemachte Psychoanalytiker Dr. Rainer Funk (Tübingen) vergegenwärtigte uns, dass es schon früh in der Historie der IEFG Tagungen zur Pädagogik gegeben hatte, man im digitalen Zeitalter jedoch vor neuen gesellschaftlichen Strebungen steht, die auf Kinder einwirken. Eine Verteidigung der Biophilie setze voraus, vor allem die Effekte jener Strebungen kritisch zu analysieren. Dr. Helmut Wehr (Heidelberg) rückte ergänzend das schulische Autoritätsverständnis in den Fokus: Rationale Autorität, die auf Kompetenz fußt, sei mit Biophilie durchaus vereinbar. Um irrationalen Autoritäten entgegenzustehen, müssten Erziehungseinrichtungen Partizipation, Sinnorientierung, Verantwortungsgefühl, Bildungsanregung, zuhörende Empathie sowie Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung bieten. Prof. Dr. Otto Lüdemann (Hamburg) verwies daran anschließend auf eine gedankliche Nähe zu zertifizierten Reggio-Kindergärten. Die Ansprüche an Erziehende müssten neben rationaler Autorität wieder liebevolle Zuwendung, intuitive Kreativität und Ergebnisoffenheit beinhalten, was zugleich archetypischen, schamanischen Rollen entspreche. Nach der Gesprächsrunde endete der erste Tag mit privatem Austausch in gemütlicher Atmosphäre.
Der Samstag begann mit einem Vortrag von Prof. Dr. Eva Borst (Mainz), die uns spannende Parallelen zwischen Heydorns kritischer Bildungstheorie und Adornos beziehungsweise Fromms Verständnis von Zartheit präsentierte. Eine kritische Erziehung zur Zartheit sei Voraussetzung für ein empathisches, liebevolles Miteinander wie auch für das Widersprechen im Angesicht inhumaner Taten und Tendenzen – nicht zuletzt, weil sie ein biophiles Ideal vermittele. Es folgten die Ausführungen des Grundschulrektors und Autors Dr. Achim Heinze (Postmünster) mit einem Plädoyer, die kindliche Selbstfindung im Schulsystem an die erste Stelle zu setzen. Beispielreich sprach er sich für Flexibilisierungen von Einschulungen respektive Klassenstufen, für Team-Teaching und gegen Multiple-Choice- oder Lückentext-Aufgaben aus, welche – statt der eigenen Kreativität – nur das Nachahmen und Befolgen förderten. Nach einem lyrischen Beitrag durch Anke Raidt teilte Dr. Dr. Michael Kubsda (Duisburg-Essen) seine Gedanken zu den Vorteilen Fromms fachübergreifender Theorien für das pädagogische Terrain mit dem interessierten Publikum. In der Erziehung schlichtweg einzelwissenschaftliche Erkenntnisse zu verallgemeinern, führe stets in Sackgassen. Vielmehr müsse das Lehren wie eine Kunst praktiziert werden, die nach Fromm Disziplin, Konzentration, Geduld und die Relevanz des Gegenstands voraussetzt. Der Beitrag des Kunstpädagogen Prof. Dr. Ralf Lankau (Offenburg) sezierte daraufhin die Wirkungen immer stärker digitalisierter und quantifizierter Bildung auf die Kindesentwicklung. Sachkundig und pointiert bezog er gegen die Erprobung unkontrollierbarer Technologien (etwa künstlicher Intelligenz) an Schulen Position und sprach von einer Überwachungspädagogik, die aufgrund konzernfinanzierter Studien und zum Nachteil des gemeinschaftlichen, sozialen Lernens Anwendung finde. Neben schärferen Regeln brauche es für den Bildungserfolg selbstständige körperliche Erfahrungen.
Um ebendiese ging es am selben Nachmittag. Zunächst hörten wir den Feldenkrais-Trainer und Erziehungswissenschaftler Dr. Matthias Rießland (Darmstadt), der den frommschen Begriff des Gewahrwerdens in Beziehung zur Lehrmethode Moshé Feldenkrais‘ setzte. Dessen Idee war es, durch achtsame Bewegungsübungen zu einem geschulten Bewusstsein seiner Selbst und der Interaktion mit anderen zu gelangen – den Menschen in seiner Gesamtheit als Subjekt und Objekt sowie seelisch und körperlich zugleich zu erleben. In Anschluss an diesen Vortrag konnten die Teilnehmenden jeweils an zwei von drei praktischen Angeboten teilnehmen. Zur Wahl standen Feldenkrais-Übungen mit Matthias Rießland, echte Gespräche in philosophischen Runden mit Anke Raidt und das Kunstprojekt Liberty needs a new dress mit der Lehrerin Christa Lösel (alias WILHELMINE, Nürnberg), die allesamt auf begeisterte Resonanz stießen. Nach dem intensiven Programm des Tages nutzten viele die Möglichkeit, während eines Audio-Beitrags (Zur Rolle kritischer Pädagogik in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Gespräch mit Prof. Dr. Robert Schneider-Reisinger, Wien) lauschend neue Kräfte zu sammeln.
Das war auch nötig, denn die 20 Uhr begonnene Mitgliederversammlung der IEFG sollte gute drei Stunden dauern. Schließlich standen neben Tätigkeits-/Rechenschaftsberichten und Haushaltsfragen auch Wahlen auf der Agenda: Unser langjähriger Vorstandsvorsitzender Elias Jungheim legte sein Amt nieder, um sich voll und ganz neuen beruflichen Aufgaben sowie seiner neugeborenen Tochter widmen zu können, wie er in einer bewegenden Videobotschaft erklärte. Einem ausgiebigen Applaus, in dem viel Zuneigung und Dankbarkeit lag, folgten Abstimmungen, aus welchen hervorging, dass Veit Hailperin (Zürich) nun in den Vorstand aufrückt und Michael Kubsda seinen Platz im erweiterten Vorstand einnimmt – Gratulation! Es schlossen sich noch zwei Diskussionen an, wobei sich die erste um Ideen für das kommende Jubiläumsjahr 2025 drehte. Klärungsbedarf bestand auch angesichts einer Kritik an den vergangenen Tagungen, bei denen die Titel mehr Perspektivenvielfalt versprochen hätten, als letztlich abgedeckt werden konnte. In Zukunft wird stärker darauf zu achten sein.
Am Sonntagmorgen schenkte uns Anke Raidt – nach einem kraftspendenden Frühstück und einer kleinen Meditationsübung – hochinteressante Einblicke in ihre pädagogische Arbeit an der Grundschule Waldschule Neuweiler, der ersten Modellschule für biophil angelegte Erziehung und Bildung. Wie sie unterstützt durch eine eindrucksvolle Kurzdokumentation darlegte, stehen dort fünf Prinzipien im Mittelpunkt: die Freiheit von Vorbehalten, der Respekt vor den Rechten anderer, die Übernahme altersgemäßer Aufgaben und zunehmend eigener Entscheidungen, eine möglichst unbürokratische Führung sowie die Anregung auf allen menschlichen Ebenen. Es gelte, Theorie und Praxis zu verbinden, um sich selbst mit sämtlichen gesellschaftlichen Anteilen bewusst werden und erforschen zu können. Im Rahmen eines Resümees, das die Teilnehmenden der Tagung zuerst in kleinen Gruppen und danach im Plenum zogen, war die Bewunderung für jenes Projekt spürbar. Darüber hinaus wurde deutlich, dass sich das Schulsystem und die üblichen Zustände in Klassenräumen nur mühsam ändern lassen werden. Vielleicht aber kann aus solchen guten Beispielen, den grundlegenden Erhellungen und den konkreten Vorschlägen dieser wunderbaren Jahrestagung perspektivisch etwas heranwachsen, das eines Tages doch ganz geboren wird.
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